Im Arbeitsrecht tut sich in letzter Zeit eine Menge – gerade die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) können auf bestimmte Personengruppen großen Einfluss haben. Aber auch die nationalen Arbeitsgerichte befassen sich mit interessanten Fragestellungen.
Warum der EuGH immer wichtiger wird im Arbeitsrecht
Die Beschäftigungsverhältnisse vieler Menschen sind klar geregelt und bieten kaum Anlass für gerichtliche Auseinandersetzungen. Kommt es jedoch zum Streitfall, ist gute anwaltliche Vertretung ein absolutes Muss. Das beweisen immer wieder die Fälle, die in letzter Instanz dem EuGH vorgelegt werden. Sowohl Kläger als auch Beklagte sollten sicher gehen, im Zweifelsfall den gesamten Rechtsweg auszuschöpfen, da dieser wegweisende Bedeutung haben kann.
Einer der bekanntesten Fälle dürfte die Klage der jungen Dame sein, die vor mittlerweile fast zwei Jahrzehnten die Öffnung der Bundeswehr für Frauen auch für den bewaffneten Dienst erwirkt hat. Doch nicht immer ist es von derart großer gesellschaftspolitischer Bedeutung, wenn der EuGH sich einschaltet. Außerdem bedeutet ein solches Urteil nicht automatisch, dass sich alles ändert, denn häufig besagt eine Entscheidung der europäischen Richter nur, dass ein Sachverhalt vor den zuständigen örtlichen Gerichten neu verhandelt werden muss. Dies allerdings dann unter den Maßgaben, welche die EuGH-Richter in ihren jeweiligen Urteilen festgelegt haben.
Einige aktuelle Entscheidungen im Arbeitsrecht im Überblick:
- Elternzeit verkürzt evtl. den Anspruch auf Jahresurlaub
- Ist eine Kündigung wegen erneuter Eheschließung durch Kirche religiöse Diskriminierung?
- Haben Schwangere und Stillende besondere Rechte im Schichtdienst?
- Muss eine bezahlte Freistellung bei der Berechnung des ALG berücksichtigt werden?
- Taxifahrer müssen nicht alle 3 Minuten einen Knopf drücken
Jahresurlaub verkürzt sich durch Elternzeit
Die Frage, ob sich der Anspruch auf den Jahresurlaub durch die Inanspruchnahme von Elternzeiten verkürzt, ist in Europa schon öfter kontrovers diskutiert worden. Der EuGH hat nun im Urteil vom 04.10.2018 (Az.: C-12/17) klargestellt, dass die Elternzeit den Jahresurlaub tatsächlich verkürzt. Der Zeitraum der Elternzeit könne nicht mit dem Zeitraum gleichgesetzt werden, in dem tatsächlich gearbeitet wird. Entschieden wurde über die Klage einer rumänischen Richterin, die nach eigener Ansicht einen Resturlaub von fünf Tagen zur Verfügung hatte. Da sie Elternurlaub direkt anschließend an den Mutterschaftsurlaub genommen hatte, galt das Arbeitsverhältnis während des Zeitraums der Elternzeit (nicht jedoch während des Mutterschaftsurlaubs!) als ruhend.
Der Dienstherr beharrte auf der Berechnung der Urlaubstage nach dem rumänischen Recht, das den bezahlten Jahresurlaub an die Zeit tatsächlicher Arbeitsleistung im laufenden Kalenderjahr koppelt. Das EuGH sieht diese nationale Gesetzgebung mit dem EU-Recht als vereinbar an, da der Zeitraum des Elternurlaubs bei der Berechnung des Urlaubsanspruchs für das Jahr nicht mit Zeiträumen tatsächlicher Arbeitsleistung gleichgestellt werden könne.
Religiöse Diskriminierung wegen erneuter Eheschließung?
In Deutschland herrscht die Freiheit der Religionsausübung, so will es das Grundgesetz. Prinzipiell darf die religiöse Überzeugung also keinerlei Einfluss auf das Beschäftigungsverhältnis haben. Ausnahmen gibt es vor allem in Deutschland regelmäßig bei Beschäftigten der Kirchen, die ihre eigenen Regeln nach dem Kirchenrecht aufgestellt haben – und das, obwohl Kirche und Staat in der Bundesrepublik Deutschland klar getrennt sind. Insbesondere Krankenhäuser, die von der katholischen Kirche betrieben werden, geraten immer wieder ins Kreuzfeuer der Kritik, weil sie ihren Beschäftigten bestimmte Regeln auferlegen, die ansonsten auf dem freien Arbeitsmarkt keine Bedeutung hätten.
Nun hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) in einem Urteil vom 11.09.2018 (Az.: C-68/17) entschieden, dass die Anforderung des Arbeitgebers an einen katholischen Chefarzt, den „heiligen und unauflöslichen Charakter der Ehe nach dem Verständnis der katholischen Kirche“ zu beachten, ungerechtfertigt erscheint. Ob dem wirklich so ist, muss jetzt allerdings noch das Bundesarbeitsgericht entscheiden. Im vorliegenden Fall hatte ein katholischer Chefarzt nach der Scheidung von seiner ersten Frau eine neue Ehe vor dem Standesamt geschlossen.
Die erste Ehe war nach katholischem Ritus geschlossen und nicht offiziell aufgelöst worden. Die unter Aufsicht des katholischen Erzbischofs von Köln stehende Krankenhaus-GmbH kündigte dem Arzt mit der Begründung, dass eine nach Kirchenrecht „ungültige Ehe“ in erheblicher Weise gegen seine Loyalitätsverpflichtungen aus dem Dienstvertrag verstoßen würde. Tatsächlich stellt dieser Sachverhalt nach kanonischem Kirchenrecht einen Kündigungsgrund dar. Dem widersprach der Chefarzt und berief sich auf den Gleichbehandlungsgrundsatz, da das Krankenhaus einem evangelischen oder konfessionslosen Chefarzt in gleicher Situation nicht gekündigt hätte.
Der EuGH in Luxemburg gesteht Kirchen oder anderen weltanschaulichen Organisationen grundsätzlich zu, dass sie Anforderungen an loyales und aufrichtiges Verhalten ihrer Beschäftigten von der Konfessionszugehörigkeit abhängig machen. Allerdings müsse ein solcher Beschluss durch eine „wirksame gerichtliche Kontrolle“ überprüft werden können. Das bedeutet, dass nationale Gerichte (in diesem Fall das BAG) sicherstellen müssen, dass religiöse oder weltanschauliche Vorgaben im Hinblick auf die Ausübung oder Art einer beruflichen Tätigkeit tatsächlich gerechtfertigt und rechtmäßig sind. Ohne der abschließenden Prüfung durch das Bundesarbeitsgericht vorzugreifen, stellt das EuGH in dem Urteil ferner fest, dass die zu klärende Anforderung im vorliegenden Fall nicht als gerechtfertigt erscheint.
Das BAG muss nun prüfen, ob eine Beeinträchtigung des zur Debatte stehenden Ethos oder des Rechts auf Autonomie des Arbeitgebers erheblich und wahrscheinlich ist. Besonders wiesen die Richter zudem auf die Charta der Grundrechte der Europäischen Union hin, die jede Art von Diskriminierung wegen Religion oder Weltanschauung verbietet und einzelnen Privatpersonen ein Recht verleiht, das von der nationalen Gesetzgebung und Rechtsprechung entsprechend zu berücksichtigen ist. Genau nachlesen kann man das Urteil unter diesem Link.
Besondere Rechte für Schwangere und Stillende im Schichtdienst
Dass Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern trotz augenscheinlich klarer Rechtslage verletzt werden, ist nicht neu. Tatsächlich zeigen aber auch Fälle wie der obige, dass vermeintlich eindeutige Rechtslagen (nämlich die Sonderrechte religiöser und weltanschaulicher Arbeitgeber) unter Umständen dennoch zugunsten des Arbeitnehmers ausgehen können. Die renommierte Münchner Kanzlei für Arbeitsrecht Dr. Olsen empfiehlt daher stets eine genaue Prüfung des Sachverhalts. Gerade die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes zeigt häufig neue Perspektiven auf. So hat eine bei einem spanischen Sicherheitsunternehmen beschäftigte Frau jetzt einen Erfolg bei der Frage nach dem besonderen Schutz für Schwangere und stillende Arbeitnehmerinnen im Schichtdienst erzielt.
Im Urteil des EuGH vom 19.09.2018 (C-41/17) ging es darum, dass die Klägerin nach der Geburt ihres Kindes als stillende Mutter in einem variablen Wechselschichtdienst arbeiten musste. Der teilweise Einsatz während der Nachtstunden war damit nicht vereinbar. Die Mutter wollte daher einen ruhenden Status des Arbeitsverhältnisses für die Dauer der Stillperiode erreichen. Nach spanischem Recht stehen ihr dabei Geldleistungen zu. Die entsprechende europäische Richtlinie 92/85, welche die Sicherheit und den Gesundheitsschutz schwangerer und stillender Arbeitnehmerinnen regelt, sieht eine Entbindung von Nachtarbeit vor, sofern ein ärztliches Attest diese Notwendigkeit bestätigt.
Ein solches Attest konnte die Mutter allerdings nicht vorlegen. Die RL 2006/54 über die Gleichbehandlung von Männern und Frauen in arbeitsrechtlichen Fragen kehrt jedoch die Beweislast um – hiernach müsste also der beklagte Arbeitgeber beweisen, dass keine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes vorliegt. Das zuständige Gericht in Spanien schaltete den EuGH ein, um zu klären, ob die in der RL 92/85 erwähnte Nachtarbeit auch auf kombinierte Schichtarbeit auszulegen sei und ob die Beweislastumkehr aus der RL 2006/54 Anwendung findet. Beides bejahte der Europäische Gerichtshof.
Vergütung während einer Freistellung muss bei Berechnung von ALG berücksichtigt werden
Das Bundessozialgericht (BSG) hat sich mit der Frage beschäftigt, ob eine Vergütung, die während einer Freistellung bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses gezahlt wurde, in die Berechnung des Arbeitslosengeldes einbezogen werden muss. Diese Frage bejahte das BSG im Beschluss vom 30.08.2018 (Az.: B 11 AL 15/17 R). Im betreffenden Fall war zwischen der Klägerin und ihrem Arbeitgeber ein Aufhebungsvertrag geschlossen worden. Von ihrer Arbeitsleistung wurde sie unwiderruflich für die Dauer von einem Jahr freigestellt, die monatlichen Bezüge liefen weiterhin. Im Gegenzug stand die Klägerin jederzeit zur unentgeltlichen Beantwortung von Fragen und zur Informationserteilung zur Verfügung.
Für einen Zeitraum von elf Monaten nach Ende des Arbeitsverhältnisses bezog die Klägerin Krankengeld, denen sich der Bezug von Arbeitslosengeld anschloss. Bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes wurde die erwähnte Vergütung während der Freistellung jedoch nicht berücksichtigt, da die Klägerin nach Ansicht der Bundesagentur für Arbeit faktisch nicht mehr in einem Beschäftigungsverhältnis gestanden habe. In den unteren Instanzen ergingen unterschiedliche Urteile durch das Sozialgericht Gelsenkirchen und das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen. Das BSG schloss sich im Ergebnis dem LSG NRW an, das der Klage stattgegeben hatte. Demnach muss als Bemessungsgrundlage für die Berechnung des Arbeitslosengeldes jede gezahlte Vergütung herangezogen werden, die während einer Beschäftigung im versicherungsrechtlichen Sinn gezahlt wurde. Gesetzliche Grundlage hierfür ist § 150 Abs. 1 Satz 1 SGB III.
Taxifahrer müssen nicht ständig Dienstbereitschaft signalisieren
Die Arbeitsbedingungen bestimmter Berufsgruppen unterscheiden sich teilweise erheblich voneinander. Ein Taxifahrer hatte die Zahlung des gesetzlichen Mindestlohns auch für die Standzeiten während des Arbeitstages verlangt, die beim Warten auf Fahrgäste anfallen. Der Arbeitgeber beharrte darauf, nur solche Arbeitszeiten zu vergüten, die vom Zeiterfassungssystem des Taxis erfasst werden. Drückt der Fahrer während einer Standzeit nicht nach drei Minuten eine Taste, wird die Zeit nicht als Arbeits- sondern als (unbezahlte) Pausenzeit erfasst. Der Standpunkt des Fahrers war, dass es sich trotzdem um Arbeitszeit handelte, sofern er auch ohne Betätigung der Taste für die Aufnahme von Fahrgästen zur Verfügung stand.
Eine Betätigung im dreiminütigen Rhythmus sei weder zumutbar noch zu jeder Zeit möglich gewesen. Sowohl das Arbeitsgericht Berlin als auch das LAG Berlin-Brandenburg haben den Anspruch auf den Mindestlohn auch ohne Drücken der Signaltaste bejaht, da es sich um vergütungspflichtige Bereitschaftszeiten handelt. Die Vorgabe einer Betätigung der Taste im Dreiminuten-Takt sei nicht durch berechtigte Interessen des Taxiunternehmers gedeckt und unverhältnismäßig. Dass der Arbeitnehmer keine Pausenzeiten in Anspruch genommen habe, könne man auch anhand der Verteilung der Zeiten erkennen, so die Richter. So standen bei den erfassten Zeiten einer Arbeitszeit von rund zwölf Stunden eine Standzeit von lediglich elf Minuten gegenüber. Das sei nicht mit den plausiblen Arbeitsabläufen im Taxigewerbe vereinbar. Da eine Revision vom LAG zum Bundesarbeitsgericht nicht zugelassen wurde, ist diese Entscheidung endgültig.
Fazit: Eine Überprüfung der Rechtslage lohnt sich im Arbeitsrecht fast immer
Nicht alle Entscheidungen des EuGH haben sofort Auswirkungen auf Arbeitnehmer in allen EU-Ländern. Oft geht es darum, die Fälle an die zuständigen nationalen Gerichte zur erneuten Prüfung zurückzuverweisen. Trotzdem ergeben sich in vielen Fällen Auswirkungen auf Beschäftigte in der gesamten EU. Die unterschiedliche Rechtsprechung vor nationalen Gerichten macht eine höchstrichterliche Einordnung oft nötig. Für die genaue Klärung von arbeitsrechtlichen Konflikten sollte daher immer anwaltlicher Rat eingeholt werden.
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